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In der Silvesternacht die Persönlichkeit etwas erweitern

Das international auftretende Cabaret Bizarre inszeniert in der Churer 
«Werkstatt» eine Silvesterparty mit schrillen Figuren und viel Musik.

Südostschweiz
28.12.16 - 11:21 Uhr
Kultur

von Mathias Balzer

Die Churer «Werkstatt» feiert Silvester mit einem ausgelassen-frivolen Programm. Die Performer des Cabaret Bizarre aus Basel werden die Gäste der Kulturbar ins neue Jahr begleiten. Das Netzwerk aus Künstlerinnen und Künstlern aus ganz Europa bereist mit seinen Shows seit 2006 Clubs zwischen Berlin und Napoli, Strassburg und Barcelona, Genf und Zürich. Sie sehen sich als Vertreter des Neo-Kabaretts (siehe Kasten).

«Ich wurde vor ein paar Jahren auf die Show aufmerksam, und eigentlich war es ein lang gehegter Wunsch, diese nach Chur zu holen», sagt Romano Zoppi, Programmleiter der «Werkstatt». «Wir wollten dieses aussergewöhnliche Jahr des Neubeginns in der ‘Werkstatt’ auch mit etwas Ausser-
gewöhnlichem abschliessen.»

Kostüme und nackte Haut

Wer nun aber klassische Kabarett-
atmosphäre mit Bistrotischchen und roten Lämpchen erwartet, wird enttäuscht. «Beim Cabaret Bizarre steht das Publikum, wie an einer Tanz-
party», erklärt Zoppi. Es ist strikter Dresscode angesagt. Tipps dazu gibt es auf der Website der «Werkstatt». 
Erlaubt und gefragt ist alles, was ins Kuriositätenkabinett des Cabaret Bizarre passt. Von der Dragqueen bis zum Druiden, vom Latexkostüm bis zur einfachen, edlen Abendgarderobe. «Die Besucher sollen Teil des Ganzen werden», erklärt Zoppi. Es gehe eigentlich alles – nur nicht die Nullachtfünfzehn-Strassenkleidung.

Und wieso darf die Show erst ab 
18 Jahren besucht werden? «Die Show ist etwas düster und auch dekadent – und es ist wahrscheinlich, dass ein Künstler oder eine Künstlerin während der Show zwischendurch nichts anhat», erklärt Zoppi.

Rollenspiel, Show und Tanz

«Es geht beim Dresscode darum, dass der Besucher selbst auch mit seiner Rolle spielt, seine Persönlichkeit ein wenig erweitert oder unterstreicht», erzählt Teka Kaufmann. Der künstlerische Leiter des Cabaret Bizarre weiss, dass eine gewisse Hemmschwelle besteht, wenn es um die Aufritte seiner Künstler geht. «Niemand muss sich fürchten, schämen oder etwas mitmachen, das er nicht will. Es braucht einfach eine gewisse Offenheit», erklärt der Basler. Neben den beiden Showblocks à circa 40 Minuten soll vor allem ausgelassen gefeiert und getanzt werden. Angesagt sind Swing, Rock’n’Roll, New Wave, Dark Wave und elektronische Formen des Industrial.

Aber natürlich geht es in den Shows auch um Erotik. «Wir inszenieren in Chur jedoch keine Fetischparty. Wir spielen und kokettieren mit solchen Formen, mehr nicht» sagt Kaufmann. Zudem fordere das Orakel für Chur Masshalten. Orakel für Chur? Im Stile des okkulten Kabaretts wird für jede Show eine Tarotkarte gezogen. «Für Chur war es die Karte der ‘Mässigung’», erklärt Kaufmann. Das Spiel mit der Karte unterstreiche, dass jede Show ein Unikum sei, was Zusammensetzung der Künstler, Thema und Musik betreffe, so der künstlerische Leiter.

Dragqueen, Päpstin, Burlesque

«Die meisten, die bei uns auftreten, kommen aus dem Ausland. In der Schweiz sind Vertreter des Cabaret Bizarre sehr rar», erklärt Kaufmann. Auf der Website des Netzwerks sind rund 30 Künstlerinnen und Künstler aufgelistet. Für die Silvester-Edition in der «Werkstatt» reisen rund 13 Personen nach Chur. Drei davon sind DJ, sechs sind für den reibungslosen Ablauf und das Ambiente zuständig und folgende vier stehen auf der Bühne:

Die Dragqueen Virgin Xtravaganzah tritt in sakraler Atmosphäre im Mariakostüm auf, jedoch mit Schnurrbart. Sie singt laut Kaufmann äusserst freizügige Texte. Missy Macabre sei von Beginn weg dabei. Sie sei eine in London sehr angesehene Künstlerin des Dark-Cabaret. Ihre Utensilien hat sie bei Fakiren entliehen: das Nagelbrett und Feuer. Nightmare Vani ist eine der wenigen Schweizer Künstlerinnen. Sie tritt im Papstkostüm samt Gasmaske auf. Die gross gewachsene Rocky Dymond bringt eine klassische Form des Variétés mit, den Burlesque-Tanz.

Cabaret Bizarre: Samstag, 
31. Dezember. Türöffnung 20 Uhr. Shows ab 22 Uhr. Informationen und Tickets unter www. werkstatt. ch.

Cabaret Bizarre: Die Spielformen des Aussergewöhnlichen haben Tradition

Neo-Kabarett ist eine 
weiterentwickelte Spielform der legendären Variété-
kultur der Zehner- bis Dreissigerjahre des letzten Jahrhunderts. In Paris, Berlin oder London wurden damals die Grenzen der Unterhaltung neu abgesteckt. Spielformen aus Wanderzirkussen, dem Vaudeville-Theater und politischem Kabarett vermengten sich zu einer schillernden Unterhaltungsform, deren wohl berühmteste Künstlerin Josephine Baker war. Ihre lasziven Tanznummern sorgten im Paris und Berlin der Zwanzigerjahre für Furore und rote Köpfe. Gleich nebenan besang Marlene Dietrich im Hosenanzug die «fesche Lola».

Dass diese frivole Mischung aus künstlerischer Experimentierlust, Vergnügungssucht und sexueller Freizügigkeit ein Tanz auf dem Vulkan war, wurde erst nach der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs wirklich sichtbar.

Die Spielformen des Cabaret Bizarre blieben jedoch erhalten, entwickelten sich weiter und prägen die Popkultur bis heute.

Kunstfiguren wie Ziggi Stardust, Klaus Nomi, Grace Jones, Madonna oder Pink haben ihre künstlerischen Wurzeln sowohl im europäischen Vaudeville als auch in den Freakshows auf Conny 
Island oder in den Schwulen-Clubs und Diskotheken der Siebziger- und Achtzigerjahre. Punk, Gothic, New Wave, Teile der Performancekunst, die Kultur der Dragqueens, Fetisch, Tattoo und Piercing sind mit der Welt des Neo-
Kabaretts verbunden. (bal)

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