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Ein Selberdenker mit frivoler Ader

Die St. Gallische Kulturstiftung hat den Soziologen Peter Gross ausgezeichnet. Der 75-jährige gebürtige St. Gallenkappler überraschte mit einer kecken Kostprobe aus seinem neuen, unveröffentlichten Buch.

Südostschweiz
04.12.16 - 18:58 Uhr
Kultur

Wird ein glanzvoller Name gefeiert, findet sich eine illustre Gesellschaft ein. Sängerin Paola Felix, Ständerat Paul Rechsteiner, alt Regierungsrätin Kathrin Hilber und weitere Prominenz aus Politik und Wirtschaft erwies am Freitagabend dem Soziologen Peter Gross die Ehre. Der 75-Jährige wurde in St. Gallen mit dem mit 30 000 Franken dotierten Grossen Kulturpreis für sein literarisches und wissenschaftliches Schaffen geehrt. 

«Wer die Wahl hat, hat die Qual», sagt Corinne Schatz, Präsidentin der St. Gallischen Kulturstiftung, in ihrer Ansprache – und spielt damit auf den bahnbrechenden Essay «Die Multioptionsgesellschaft» hin. Es machte den St. Galler Soziologen 1994 schlagartig berühmt.

Treffend beschreibt Peter Gross darin die Not des Menschen angesichts des gigantischen Überangebots – im Supermarkt, vor dem Kleiderschrank oder bei der Berufswahl. Mit «Multioptionsgesellschaft» habe Gross einen Begriff geschaffen, der im täglichen Sprachgebrauch Einzug gehalten hat.

In seiner Laudatio bezeichnet Gottlieb F. Höpli – ehemaliger «Tagblatt»-Chefredaktor und langjähriger Freund von Gross – den Preisträger als «Selberdenker», der «unerschrocken ureigenen Denkpfaden folgt.» Ein Wagnis ging Gross ein, als er 2015 in einem Buch das lange Sterben seiner Frau beschrieb. Da war sogar sein Freund Höpli zunächst skeptisch.

«Wird da Privates einer sensationsgeilen Öffentlichkeit preisgegeben?», fragte er sich. Und merkte dann: Es geht nicht um Voyeurismus, sondern um ein ehrliches, riskantes Unterfangen. «Wer die Geschichte dieses Abschieds liest, kann nicht anders als tief berührt sein.»

Tannenwälder und Kruzifixe

Nach seiner Eremitierung an der Uni St.  Gallen ging Gross der Frage nach, was passiert, wenn die Alten immer älter werden. In seinen Büchern «Glücksfall Alter» und «Wir werden älter. Vielen Dank. Aber wozu?» gewinnt er dem letzten Lebensabschnitt viel Positives ab. «Peter Gross packt den Stier des Jugendwahns bei den Hörnern und betrachtet das Alter als Geschenk, das ja erst den Menschen der allerneuesten Zeit zuteil wird», fasst Höpli zusammen.

Peter Gross wurde in St. Gallenkappel geboren und wuchs in einem elfköpfigen Lehrer- und Organistenhaushalt auf. Die dunklen Tannenwälder und auch die Kruzifixe und Heiligenfiguren regten die Fantasie des Buben an und hinterliessen einen tiefen Eindruck. Auf diese Wurzeln besinnt sich Gross in seinem noch unveröffentlichten Werk. Schauspielerin Diana Dengler liest an der Preisverleihung eine Passage aus dem Buch vor. 

Es beginnt in Magdenau, wo Gross einer Kastanienallee entlang flaniert. Hier gab es einst einen Schuppen und einen fast erblindeten Knecht, «der mir als Kind Herzklopfen bereitete». Als junger Mann küsste er an diesem Ort seine spätere Ehefrau Ursula. Dann bleibt der Blick des Autors an einem Kruzifix hängen. Der Jesus erinnert ihn an Conchita Wurst. «Wie eine Heiligenerscheinung mit scharf geschnittenem Bart», schwärmt der Schreibende und outet sich gleich als Fan der Travestiekünstlerin. «Googeln Sie sie!» 

Die witzige literarische Kostprobe ist der Höhepunkt des Abends. Gross spinnt ein assoziatives Netz aus Populärkultur, persönlicher Erinnerung und religiöser Betrachtung. Man spürt förmlich den Spass, den er beim Schreiben hatte. «Ich freue mich selber auf mein Buch», sagt der Gepriesene, als er die Bühne betritt.

«Ich bin tief im Herzen berührt», sagt der vitale Herr angesichts des festlich gekleideten Publikums. Manche Menschen sehe er nach Jahrzehnten wieder. «Von daher würde ich mir wünschen, dass ich noch mehr Preise erhalte», fügt Peter Gross hinzu. Und schickt ein spitzbübisches Lächeln hinterher. (müme)

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