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«Dieser utopische Raum existiert nur in der Kunst»

Das Theater Chur zeigt Milo Raus Stück «Mitleid. Die Geschichte des Maschinengewehrs». Der Schweizer Regisseur über die Entstehung des Stücks, seine Zusammenarbeit mit Ursina Lardi und politische Kunst.

Südostschweiz
01.11.16 - 18:00 Uhr
Kultur

mit Milo Rau sprach Mathias Balzer

Die kleine Schweiz ist ein grosses Theaterland. Sie bringt regelmässig bedeutende Regisseure und Formenerfinder hervor: beispielsweise Christoph Marthaler, Ruedi Häusermann oder Stefan Kägi von Rimini Protokoll. Der Jüngste im Reigen dieser Theatererneuerer ist der Berner Regisseur und Autor Milo Rau. Seine Reenactments «Hate Radio» und «Breiviks Erklärung», seine theatralischen Schauprozesse über die «Weltwoche» und zum Fall der Pussy Riot in Moskau oder über die Schuld multinationaler Firmen am Krieg im Kongo sorgen für Furore. Ebenso seine «Europa-Trilogie». Die Produktionen des 39-Jährigen tourten durch bisher 

30 Länder und waren an allen bedeutenden Festivals in Europa zu sehen.

Das Theater Chur zeigt am Freitag, 4. November, Raus Inszenierung «Mitleid. Die Geschichte des Maschinen-
gewehrs». In der Produktion der Schaubühne Berlin spielt die Bündnerin Ursina Lardi an Seite der belgischen Schauspielerin Consolate Sipérius einen Doppelmonolog, der aus Interviews mit NGO-Mitarbeitern, Geistlichen und Kriegsopfern in Afrika und Europa geformt ist. Das Thema: Unser Blick von der Festung Europa aus auf das Elend anderswo. Eine «elektrisierende Herausforderung» schrieb die FAZ. «Atemberaubend» die NZZ.

Herr Rau, sie und ihr Ensemble haben für das Stück die sogenannte Mittelmeerroute der Flüchtlinge und den Kongo bereist. Wieso zwei so unterschiedliche Orte?

MILO RAU: Uns hat die Mittelmeerroute interessiert, weil gerade zu dieser Zeit das Bild des dreijährigen Aylan, der tot am Meeresufer liegt, überall präsent war. Mit diesem Bild steigen wir in die Inszenierung ein. Unsere Protagonistin, Ursina Lardi, fragt sich angesichts des Bildes, warum es in ihr nichts auslöst. Das wiederum steht im Bezug zu Erlebnissen, die die Figur als NGO-Mitarbeiterin Mitte der Neunzigerjahre in Ruanda und im Kongo hatte: der Genozid, der folgende Bürgerkrieg, ein Massaker in einem Flüchtlingslager. Diese Geschichte erzählt Lardi im Hauptteil des Stücks.

Also entsprach die Reiseroute der Dramaturgie dieser Hauptfigur?

Genau. Ihre Figur behauptet, das Bild  des Kindes gar nicht zu kennen – was bei Lardi tatsächlich so war.  Sie stellt dann die Frage, warum jemand vor den Toren Europas sterben muss, damit wir die Tragödie in Syrien oder im Kongo überhaupt wahrnehmen. Was uns zur Frage führt, warum das Konzept des Mitleids nicht funktioniert.

Warum funktioniert es nicht?

Es gibt verschiedene Ebenen von Mitleid. Es gibt Empathie. Die empfinden auch Tiere. Dann gibt es die reflektierte Form. Dazu gehört beispielsweise, dass wir einer Figur auf der Bühne folgen und mit ihr mitleiden können. Das ist die Katharsis. Die nächste Form ist die Solidarität als Reaktion auf das Mitleid. Das ist die schwierigste Form.

Also das politische Engagement?

Ja, oder die Arbeit als Mitglied einer NGO eben. Lardi beschreibt das Misslingen dieser Solidarisierung, die unüberbrückbare Distanz, die bestehen bleibt. Darin steckt auch eine Kritik an der Hilfe an sich.

Beruht diese Kritik auf persönlichen Erfahrungen von Ihnen?

Ich hab viel Zeit in Zentralafrika verbracht und kenne die NGO-Industrie gut.

Wie kommen sie eigentlich auf Zentralafrika?

Meine Auseinandersetzung mit dieser Region begann 2010 mit der Produktion «Hate Radio», die den Genozid thematisiert hat. Wir sind mit der Produktion in Afrika getourt und so wurde daraus eine fortlaufende Beschäftigung bis hin zu unserer diesjährigen Produktion «Das Kongo Tribunal».

Dreht sich das Stück vor allem um die Arbeit der NGOs?

Nicht nur. Das Stück ist auch Selbstkritik an uns Künstlern, die dort hinreisen, solche Projekte vorbereiten und wieder verschwinden. Und es ist eine Kritik am dokumentarischen Theater an sich. Diese wird verkörpert durch  Consolate Sipérius, die ihr eigenes Schicksal erzählt. Sie ist – als wirkliche Überlebende des Genozids – eigentlich die Expertin des Alltags, während Lardi klar eine Schauspielrolle ausführt und in gewisser Weise auch gerade daran zerbricht. 

Sie schreiben im Dossier zum Stück, politische Kunst sei zum Schulfach geworden. Beziehen Sie das auf sich selbst?

Im Grunde ist unser Doppelmonolog ein grosses Theateressay und eine Kritik am politischen Engagement, am politischen Theater im Speziellen. Eine Kritik von innen her. Ich bin ja kein Rechtspopulist, der Künstler für unnötig hält.

Beruht diese Kritik auf Ihrer Erfahrung mit dem Theaterbetrieb? Stossen Sie da an Grenzen?

Meine Erfahrung ist, beispielsweise mit «Das Kongo Tribunal», dass die Grenzen sehr weit gesteckt sind. Man kann sehr viel tun. Wir konnten das erste Wirtschaftstribunal in der Geschichte Afrikas durchführen, mit Richtern aus Den Haag. Das hätte ich weder als Politiker noch als Entwicklungshelfer je machen können. Dieser utopische Raum existiert nur in der Kunst. Aber natürlich ist eben gerade dieser Raum begrenzt. Nach drei Tagen ist er wieder verschwunden. 

Sie stossen also doch an Grenzen?

Natürlich müssen wir uns vor Augen führen, dass Theater vor allem eine symbolische Wirkung hat. Trotzdem gibt es den Willen meinerseits, reale Veränderungen herbeizuführen. «Mitleid» beispielsweise haben wir in wenigen Monaten über 60 Mal aufgeführt, in Berlin und in sechs weiteren Ländern. Das Stück hat eine angeregte Debatte über politisches Theater angestossen und zeigt, dass politisches Theater und klassisches Schauspiel durchaus zusammengehen können.

In diesem Sinne ist das Stück eine Mischung von klassischem Schauspiel und Dokumentartheater?

Ach wissen, Dokumentartheater gibt es eigentlich gar nicht. Oder dann wären es die Stücke von Tschechow oder Shakespeare, wo wir nach einer Vorlage, einem Dokument spielen. Wir hingegen haben bei null angefangen. Unser Stück besteht aus unseren Fantasien, in die Wirklichkeit eingeflossen ist. In diesem Sinne ist «Mitleid» realistisches Theater, weil wir nicht auf Dokumente Bezug nehmen, sondern auf die Welt.

Aber das zeitgenössische Dokumentartheater beruft sich ja gerade auf den realen Experten, der aus der Welt auf die Bühne kommt.

Genau diese Form kritisieren wir in unserem Stück. In diesem Sinne ist es auch eine Selbstkritik an meinen eigenen, früheren Produktionen wie der «Europa-Trilogie», wo die Schauspieler aus ihrem eigenen Leben erzählen. Einerseits vollzieht sich diese Kritik durch die Rolle von Sipérius, andererseits auch durch den Umgang von Lardi mit ihrer eigenen Biografie im Stück.

Ein Kritiker schrieb, dass Sie sich eigentlich dem antiken Theater verpflichtet fühlen. Stimmt das?

Im Stück «Mitleid» sicher. Ich glaube an die Verwandlungsfähigkeit und letztendlich auch an die Katharsis des Schauspielers auf der Bühne. Wir können unsere Intelligenz steigern, indem wir für ein, zwei Stunden jemand anderes sind. In unserem Stück behandeln wir diesen Aspekt auf tragische Weise anhand der Vorlage von Ödipus. 

Der Mensch, der sein Schicksal erst zum Ende hin erkennt?

Für mich ist Ödipus unsere Erste Welt, vertreten durch die Hilfsindustrie, die denkt, sie komme in die Stadt, um Gutes zu tun. Am Ende muss sie aber erkennen, dass sie die Pest gebracht hat. Obwohl man dies natürlich nicht wollte, aber man war eben blind wie Ödipus. Diese tragische, allegorische Ebene liegt dem Stück zugrunde. Etwas, das wir im gegenwärtigen Performance- und postmodernen Texttheater kaum mehr sehen. Das ist meine Kritik daran: dass die allegorische Figürlichkeit auf der Bühne des heutigen, bürgerlichen Theaters aus dem Fokus geraten ist. Es fehlt uns an der Selbstverständlichkeit, mit der die altgriechischen Dramatiker Kunst und Leben zusammengeführt haben.

Auf der Suche nach dem verlorenen Theater also.

Ja, genau: auf der Suche nach dem verlorenen Theater!

 

«Mitleid. Die Geschichte des Maschinengewehrs»: Freitag,
4. November, Theater Chur.

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