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Varlin, der Maler mit den vielen Masken

Der Film «Varlins Atelier in Zürich» erinnert an Varlins Schaffensphase im Atelier am Neumarkt – und an ein wiederentdecktes Wandbild. 

Südostschweiz
03.10.16 - 16:00 Uhr
Kultur

von Mathias Balzer

«Reise nach Venedig. Ich lief sechs Monate über die 400 Treppenbrücken und sah so viel Wasser, dass ich mich dem Alkohol ergab.» Varlin, mit bürgerlichem Namen Willi Guggenheim (1900–1977), war ein Meister des hintergründigen Humors, wie die oben zitierte Stelle aus seiner Autobiografie belegt.

Der Schweizer Maler war zu seiner Zeit ein Solitär in der hiesigen Kunstszene. Während abstrakter Expressionismus, Tachismus und – vor allem in Zürich – die Konkreten die Diskussion bestimmten, hielt Varlin am Figurativen fest. Im Zürcher Kunststreit zwischen Konkreten und Figurativen in den Sechzigerjahren stand seine Malerei im Mittelpunkt.

Noch heute scheint sich Zürich mit dem Erbe Varlins schwerzutun, wie die NZZ im Mai schrieb. Zurzeit sei kein einziges der 16 in der Sammlung des Kunsthauses vertretenen Bilder Varlins ausgestellt, auch nicht die berühmte «Heilsarmee», die einst Friedrich Dürrenmatts Arbeitszimmer schmückte. Der Autor hatte das Werk dem Kunsthaus mit der Auflage vermacht, es permanent öffentlich auszustellen.

Das vergessene Bild

2013 nutzten rund 1000 Kunstinteressierte die Gelegenheit, um in Varlins ehemaligem Atelier am Neumarkt 11a das riesige Wandbild «Friedhof von Almuñécar» zu betrachten. Varlin hatte das Bild 1959 nach einer Spanienreise direkt auf die Atelierwand gemalt. 1972 nahm der Maler mit dem ebenfalls monumentalen Gemälde «Das leere Atelier» Abschied von Zürich und zog mit seiner Frau Franca Giovanoli nach Bondo, wo er 1977 starb.

«Friedhof von Almuñécar» wurde nach seinem Wegzug mit Novopanplatten verdeckt. Bis zur temporären, oben erwähnten Enthüllung verschwand es für 40 Jahre darunter. Heute ist es wieder hinter einer Wand versteckt.

Auf Initiative von Lydia Trüb, der ehemaligen Sprecherin der Zürcher Liegenschaftsverwaltung, hat der Kameramann Pio Corradi dieses Ereignis genutzt, um in einem Dokumentarfilm Zeitzeugen zu Varlins Jahren am Neumarkt zu Wort kommen zu lassen. Es ist nicht Corradis erste Auseinandersetzung mit dem Maler. Bereits im Jahr 2000 führte er im Film «Varlin» von Friedrich Kappeler die Kamera.

Der Chor der Freunde

Corradis Dokumentarfilm «Varlins Zürcher Atelier» lebt vor allem von Interviews mit Freunden Varlins und Kennern seines Werks. Der Autor Paul Nizon, der Fotograf und Lichtkünstler Christian Herdeg, der Kurator Matthias Fischer, die Kunstsammlerin Lisabet Farner, der Bergeller Bergbauer Nicolin Gianotti, Varlins Tochter Patrizia Guggenheim, der Fotograf Willy Spiller: Sie alle umschreiben in persönlichen Anekdoten und kunstgeschichtlichen Einordnungen Varlins Zeit in Zürich, seine Stellung in der Kunstszene, seine dezidiert antibürgerliche Haltung, sein Spiel mit der Maske des Humors.

Historische Aufnahmen lassen Dürrenmatt zu Wort kommen, der Varlins sprühenden Geist hervorhebt und sagt: «Ich habe keinen reineren Menschen gekannt. Varlin besass die Einfachheit des wirklichen Genies.» Varlins Freundschaften mit den von ihm porträtierten Schrifstellern Hugo Lötscher und Max Frisch, seine Schlüsselwerke und seine Reisen streift der Film ebenso.

Die Geschichte von Leo und Ella

Einen beachtlichen Teil des 50-minütigen Films nehmen die Erinnerungen von Leo Lanz ein. Der aus Bivio stammende Grafiker und Privatgelehrte war der Ehemann von Ella Lanz-Althaus, der Tochter des Basler Malers Oskar Althaus. Sie war in den frühen Sechzigerjahren ein bevorzugtes Modell Varlins. Im Hinterzimmer seines Ateliers am Neumarkt hatte sie ihre Schneiderwerkstatt und Bett. Lanz lernte Althaus zu jener Zeit kennen. Er wurde ebenfalls mehrfach von Varlin porträtiert. Ella Lanz-Althaus malte später selbst.

Allein diese bohemeartige Ménage-à-trois wäre eine grössere Geschichte wert. Und genau dies ist die Krux an Corradis filmischem Essay: Es bleibt eine etwas gar luftige Collage, die zwar einiges interessantes Material versammelt, aber keinen wirklichen Fokus findet.

Ein wichtiges Dokument zu Willi Guggenheim ist der Film jedoch allemal. Und er klärt auch das mit Varlins Witz. Lanz sagt: «Der Humor war seine Maske. Darunter verbarg sich ein im Grunde melancholischer Mensch.»


«Varlins Atelier in Zürich» läuft derzeit im Kino Xenix in Zürich.

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