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Im Film «Polder» ist die Revolte Teil des Systems

Die Theatergruppe 400asa lanciert mit «Polder» ihren zweiten Spielfilm. Das düster-trashige Fantasy-Epos thematisiert die virtuelle Realität. Teile des Films, der heute in Chur anläuft, wurden in Graubünden gedreht.

Südostschweiz
24.09.16 - 07:52 Uhr
Kultur

von Mathias Balzer

Dieser Film kommt zur richtigen Zeit. Vor ein paar Wochen spazierte ein Pokemon über unseren Esstisch im Garten –also natürlich spazierte das Wesen nicht real auf dem Tisch, sondern auf dem Display eines jungen Nachbarn. Kurz darauf verschwanden er und seine Freunde vom Grillabend – es ging auf Pokemonjagd. Zwar euphorisiert von der Tatsache, etwas Neuem beizuwohnen, blieb uns trotzdem die Ungewissheit, ob man dies jetzt lustig, cool oder unheimlich finden soll.

Was passieren könnte, wenn die Verschmelzung von virtueller Realität und realer Wirklichkeit weiter fortschreitet, das thematisiert der Film «Polder». In seiner Welt herrscht die Firma Neuroo-X, deren Game die User dahin bringt, die Spielwelt nicht mehr von der echten unterscheiden zu können.

Offline sein geht nur online

Zugang zu dieser Welt hat, wer das Rote Buch besitzt, ein handygrosses Gerät. Der Spieler kann die Aufenthaltsdauer seines Avatars in der Spielwelt bestimmen. Sie kann bis zu 60 Jahre betragen. Jedoch läuft im Spiel die Zeit schneller als in der Wirklichkeit. In diesem Sinne «verlängert das Spiel das Leben». So preist eine der Promotionsdamen von Neuroo-X die Vorzüge: «Das Spiel befreit den Menschen von den Einschränkungen der Realität.»

Das Game ist als Fortsetzung heutiger technischer Möglichkeiten gedacht. Es scannt nicht nur die Nutzerdaten der Spieler, sondern gleich deren Bewusstsein. Aus diesem generiert es Schatten-Avatare, die Wunschfiguren des Spielerunbewussten. In einer Welt, in der sich die Menschen mehr in der virtuellen, als der realen Wirklichkeit aufhalten, bietet das Spiel eine künstliche Offline-Wirklichkeit als Fluchtpunkt an. Die Sehnsucht, Offliner zu sein, wird in Zukunft online gestillt.

«Polder» beginnt im Jahr 2025, in Schwarz-Weiss gedreht, in einer abgetakelten Industriezone in China. Lautsprecher und Plakate verkünden: «Don’t be evil, become a game». Ins Bild kommt Ryuko (Nina Fog). Die junge Asiatin versucht genervt über ihren Retro-Labtop Zutritt zum Game zu erlangen. Sie sucht dort Spuren ihres verschollenen Mannes Marcus (Christoph Bach). Erst als sie den Laptop aus Frust an die Wand wirft, findet sie die Mikrobänder, mit welchen sie in die Erinnerungen von Marcus eintauchen kann.

Wir erfahren, nun in psychedelischen Farbbildern, wie die Retro-Hippies eines Start-ups im Jahr 2018 in einer Hütte an einem idyllischen See darüber streiten, ob das Game auf den Markt kommen soll. Während alle das Rote Buch genial finden und den grossen Deal mit China wittern, stellt sich Marcus, der Programmierer, dagegen: «In diesem Spiel ist die Unterscheidung zwischen Spiel und Wirklichkeit inexistent. Das ist die Hölle.»

Der irre Game-Übermensch

In den Erinnerungen von Marcus wird klar: Damals, kurz vor dem Börsengang in China, muss etwas total schief gelaufen sein. Das Game hat die User krank oder verrückt gemacht. Als Beispiel für diese Verheerungen steht Fritz (Philipp Graber): Der Gamesüchtige lebt in beiden Welten und murmelt vorwiegend Nietzsche-Zitate. Das Experiment mit dem Game-Übermenschen ist gescheitert.

Die Sehnsucht, Offliner zu sein, wird in Zukunft online gestillt.

Ryuko und ihre Freundin aus der Start-up-Zeit finden Beweise, dass für die neue Version des Games in China neurologische Versuche an Gefangenen gemacht werden. Sie erpressen Neuroo-X. Doch währenddessen findet Walterli, der Sohn Ryukos, ihr Rotes Buch. Er loggt sich für 60 Jahre ein – und geht in der Spielwelt verloren. Die Mutter macht die Rückführung ihres Kleinen zur Bedingung für ihr Stillhalten über die Vorgänge in China.

Je mehr der Film seinem Showdown im «Maloja-Palace» im Engadin zusteuert, umso mehr scheinen die zuvor klar angelegten und durch die Farbgebung unterschiedenen Erzählebenen zu verfliessen. Es wird unklar, was hier Spiel und was Realität ist. Und just dann, wenn der Zuschauer meint, er habe begriffen, dass die Avatare und Ryuko sich von den Gamemachern befreien wollen, ist es doch der reale, Nietzsche zitierende Fritz, der das Inferno zündet. Erst im Epilog entwirrt sich der Plot: Das alles hat im Kopf eines in China Gemarterten stattgefunden. Es ist Marcus.

400asa, die Grenzüberschreiter

Dieses durch- und zuweilen auch übertriebene Spiel mit Fiktion und Wirklichkeit kommt nicht von ungefähr. «Polder» ist das jüngste Produkt der Zürcher Theatergruppe 400asa. Nach «Mary & Johnny» im Jahr 2012 ist «Polder» ihr zweiter Spielfilm. 400asa haben die letzten Jahre das Spiel mit Wirklichkeit und Fiktion in vielen Projekten erprobt. In Graubünden folgte man ihrem «Bus» in den Bonaduzerwald, wohnte den Filmaufnahmen zu «Jenatsch» auf dem Theaterplatz in Chur bei, oder wanderte mit «Zarathustra» am Silsersee oder zur WM-Arena in Chur. Die Gruppe um die Regisseure Samuel Schwarz und Julian M. Grühntal hat Teile des Films «Polder» über theatrale Audiowalks entwickelt. Eine App zu Polder erweitert die Spielzone des transmedialen Projekts (siehe Kasten).

Wohltuend unkonventionell

Die Macher sehen in der Durchmischung von Theater, Film und Game eine zeitgemässe Erzählform, um auf die Digitalisierung zu reagieren. Entstanden ist in dieser Auseinandersetzung aber vor allem ein Film – und der überzeugt. Hochästhetische Bilder, tolle Retroausstattung, ein Ensemble, das keine Wünsche offenlässt, witzig-kluge Verweise auf die Kulturgeschichte und die eigene Ikonografie: Nietzsches Übermensch, Maos Kulturevolution, Henry-David Thoreaus Anarchistenhütte oder Segantinis «Die Strafe der Wollüstigen».

Dazu kommen eine Dramaturgie, die wohltuend irritierend an den hierzulande üblichen Nullachtfünfzehn-Drehbuchrezepten rüttelt – und eine unangenehme politische Botschaft: Im Spiel von Neuroo-X ist vorprogrammiert, dass die User gegen das Game rebellieren. Revolte und Krieg sind Bestandteil des Systems.

«Polder» läuft derzeit in den Schweizer Kinos.

Vor dem Film geht es auf den Audiowalk
«Polder» läuft in Graubünden erstmals heute Samstag um 18 Uhr im Kino Apollo in Chur. Mit Smartphone, Kopfhörer und Polder-App werden die Zuschauer vor Beginn um 17.30 Uhr in die Umgebung des Kinos geführt, wo sie fantastsiche Geschichten rund um den Film erfahren. Auf der Website www.polder.com gibt es Informationen zum Polder Game. Einer der schweizweiten Rätsel-Hotspots befindet sich in Chur. (bal)
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