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Episode 22: Das Schloss

Nach mühevollem Marsch kommt der Professor für erotische Kultur endlich an seinem Ziel an: dem Alpenschloss. Im geheimnisvollen Innern begegnet er seinen eigenen Erinnerungen.

Südostschweiz
23.08.16 - 10:00 Uhr
Kultur

von Elias Kirsche*

Lasst uns die Stufen dieses einst reichen und nun verwitterten Schlosses hinaufsteigen und vor einem massiven Tor stehen bleiben», höre ich das Gebet von Vater Lewis weit weg von mir. «Lasst die Landschaft der Berge, die Sterne und den Himmel auf uns wirken! Lasst uns die Luft riechen und schmecken und tasten! Denn niemand weiss, ob morgen, wenn wir den Bach überqueren, alles noch da ist.»

Die Stimme verstummt, und ich versuche mich einzulassen. Mit allen Sinnen. Es ist eine dunkle, dekadente und farbentraurige Landschaft. Wenn ich genauer hinsehe, verspüre ich ein Nostalgiegefühl, sogar ein Deja-vu-Erlebnis. Tatsächlich: Ich war ja bereits einmal hier! Die Dämmerung. Die Stille. Der Schnee. Der leicht säuerliche Geruch. Der kalte, neutrale Geschmack. Ich konnte ihn nicht vergessen, selbst wenn ich wollte. Braunes, zartes, vertrocknetes Laub. Es erinnert mich an meine eigene Vergänglichkeit.

Viele Jahre sind vergangen. Ich bereue es, dass ich damals nicht hineinging. Heute werde ich das Schloss betreten. Noch mehr bereue ich, dass ich es erst jetzt, im Spätherbst, tun werde. Die Flucht aus Puritanien in der Kindheit. Die tödliche Schlucht in der Jugend. Der transparente Bach in der nahen Zukunft. Berge und die Kälte überall um mich herum. Irgendwie habe ich mir das Alpenschloss anders vorgestellt. Etwas wärmer vielleicht? Ja, genau: Wärmer.

Eigentlich habe ich mir eine süsse Insel gewünscht. Oder wenigstens die Möglichkeit einer Insel. Im Frühjahr. Vielleicht im Sommer. Nun bin ich in den Alpen. Im Spätherbst.

Ich blicke zurück und sehe Berggipfel, die ich nicht erreicht habe und auch nicht mehr erreichen werde. Die Gipfel sind aus Eis. Ich war immer zu schwach, zu ungeduldig, zu faul, um hochzusteigen. Aber dies bereue ich weniger als die Tatsache, dass ich nun völlig allein vor dem Schloss angelangt bin.

Ich höre den Absturz eines Zeppelins weit unten im Tal und erinnere mich, wie unsere Wandergruppe im Dunkeln tappte. Meine Komplizen sehe ich vor meinem inneren Auge. Sehe, wie ihre Silhouetten immer grösser werden. Ihre Schatten kleiner.

Niemand wollte den Umweg in Kauf nehmen. Alle wollten den kürzesten Weg. Ein paar starben vor Hunger, noch bevor die Expedition losging. Jemand sagte, dass die Apokalypse immer eine persönliche Sache sei. Die anderen wollten ein ideales Produkt erschaffen.
Ein Blatt Papier ohne Rückseite. Eine Lampe ohne Schatten. Die Angeknacksten wollten nur geben, nichts nehmen. Und die Funktionstüchtigen nur nehmen, nichts geben. Das Leben ist aber keine verlustlose Lotterie. Auch kein Potlatch. Der Weg zum Schloss ist lang. Und gewunden.

Der Nachhall eines Gebets von Vater Lewis fordert mich auf, das Schloss zu betreten. «Lass mich hinein», bete ich nach und mache die Tür auf.

Ich gerate in einen Lichttunnel und werde durch ein helles Platinlicht geblendet, ein Licht von ungestümer Kraft, das ich bisher nicht einmal in den Bergen gesehen habe. Mit der Zeit erkenne ich eine endlose Zimmerflucht, sie erinnert mich an die Eremitage in Sankt Petersburg.

Das erste Zimmer ist mein Kinderzimmer. «Fliehe, mein Freund, in Deine Einsamkeit und dorthin, wo eine raue, starke Luft weht. Nicht ist es Dein Los, Fliegenwedel zu sein», steht am Kopfende meines Kinderbetts.

Ich gehe weiter und gerate in einen kleinen Raum voller Menschen, die ich im Verlauf meines Lebens beleidigt habe. Ich bitte sie um Vergebung und höre meine Mutter, die eine Passage rezitiert: «Der sei wonnig, der diese Welt besucht in ihren fatalen Minuten!»

Hinter dem Vergebungsraum entdecke ich eine Familiengruft mit Seelenverwandten, Menschen, die früher als ich abberufen wurden. Die Inschrift auf dem Granitstein am Sarg meines Grossvaters lautet: Gott ist tot. (Nietzsche) Nietzsche ist tot. (Gott)

*Elias Kirsche ist 1982 in der UdSSR geboren, ist Kulturwissenschaftler und Philosoph und arbeitet nebenher als Sexualberater.

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Ein Episodenroman

Zum Jubiläum des zehnjährigen Bestehens des Schweizerischen Literaturinstituts in Biel schreiben zehn Studierende exklusiv für die «Südostschweiz» eine 24-teilige Fortsetzungsgeschichte mit dem Titel «Die Alpen im Jahr 2216». 

Seit seiner Gründung hat das Literaturinstitut, das zur Hochschule der Künste Bern HKB gehört, über hundert Absolventen des Bachelorstudiengangs «Literarisches Schreiben» hervorgebracht, darunter erfolgreiche junge Autoren wie Arno Camenisch, Silvia Tschui oder Michael Fehr. Als Dozent von Anfang an dabei ist der Bündner Autor Silvio Huonder, der auch diese Reihe betreut.

Alle anderen Teile findet man unter www.suedostschweiz.ch/alpen2216

 

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