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Episode 10: Sexyland

Aus der Schweiz ist Sexyland geworden. Die Gesellschaft huldigt der Kirche des Sextums. Ein Bericht des Professors für erotische Kultur am Institut für feministische Kulturwissenschaften.

Südostschweiz
09.08.16 - 10:49 Uhr
Kultur

von Elias Kirsche*

Das Matriarchat, die totalitäre Kastengesellschaft und das Klonen von Menschen sind die drei wichtigsten Folgen der Geschichte der Sexualität der letzten 200 Jahre. Zu den Folgen der sogenannten «Frauenemanzipation» und des «Feminismus» gehören, dass wir heute im Bett fast nur noch Robotern begegnen und dass die erotische Lust, ja die Lebenslust überhaupt, aus unserem Alltag verdrängt wurde. Wenn man das mit einem treffenderen Namen benennen will, dann war und bleibt es vielmehr der Maskulinismus, eine Fehlentwicklung, in der sich Frauen vermännlichen und maskuline Werte anstreben: Leistung, Geld, beruflicher Erfolg. Die Geschichte nach der Jahrtausendwende ist geprägt von einer Kultivierung der Männlichkeit und dem Verlust der eigentlichen Weiblichkeit. Keine abstrakt politische und machttechnisch manipulierte Gender-Theorie und keine begriffliche Spekulation werden es ändern.

Heute wird unsere Gesellschaft in fünf Kasten unterteilt. Die weiblichen Kasten bilden: Nutten (55 Prozent), Nährmütter und Puffmütter (25 Prozent), Leibmütter (zehn Prozent), Priesterinnen (sieben Prozent) und Regentinnen (drei Prozent). Die männlichen Kasten heissen: Einfache Arbeiter (66 Prozent), Geschäftsführer (14 Prozent), Drohnen (zehn Prozent), Freie Herren (acht Prozent) und Intelligenzler (zwei Prozent), wobei jede männliche Kaste der entsprechenden weiblichen untergeordnet ist. Durch heiraten einer höheren Kaste kann die Partei der niedrigeren Kaste ihre Kaste «upgraden». An der Spitze des Staates sitzt «Die Ehrbare Mutter».

Unser Staat Sexyland entstand auf Schweizer Boden. Er wird mithilfe der Kirche des Sextums regiert, einer spirituellen Einrichtung, die den Sex als Konsum- und Genussmittel vergöttert. Die Wirtschaft basiert einerseits auf der Produktion, die einfache Arbeiter gewährleisten, anderseits auf der Prostitution. Es wird darauf geachtet, dass die niedrigen Kasten möglichst viel konsumieren.

Der Alltag der meisten Männer besteht folglich ausschliesslich aus der Arbeit und dem Konsum von Sex-Wellness, jener der Frauen aus der Prostitution, der Suche nach Kundschaft und dem Konsum. Unsere Währung, die Sexa, gilt als universelles Zahlungsmittel. Der Orgasmus kostet einen einfachen Arbeiter 300 bis 500 Sexas, wobei sein Lohn etwa 2000 bis 3000 Sexas beträgt. So sind einfache Arbeiter darauf programmiert, möglichst viel zu arbeiten, um möglichst viel Sex zu konsumieren. Die meisten Frauen sind auf die Prostitution angewiesen und verdienen einen Arbeiterlohn in fünf bis acht Stunden. Fast alle von ihnen streben an, einen freien Herrn oder einen Intelligenzler zu heiraten, um sich eigene Leibkinder, ein grosser Luxus, leisten zu können. Erst die Leibmütter und männliche Drohnen, die immer genau zehn Prozent der Gesamtbevölkerung bilden, dürfen Leibkinder gebären und sich fortpflanzen. Die höheren Frauenkasten häufen immer mehr Sexaskapital an, bilden die Oligarchie und verfügen über das Monopol auf Produktionsmittel. Da die Frauen im Sexyland etwa 30 Jahre länger leben als Männer, sind viele Frauen Witwen.

Was mich anbelangt, so habe ich hier einen Platz gefunden. Aber wie bei jeder Karriere ging es nicht ohne Doppelmoral: Im Sexyland des Jahres 2216 den Posten eines Professors für erotische Kultur am Institut für feministische Kulturwissenschaften zu besitzen ist pure Heuchelei. Weder in Europa noch im Sexyland existierte je eine erotische Kultur, genauso wie die freie Liebe hier nie gelebt wurde. Sie wird auch heute nicht gelebt, trotz aller sogenannten sexuellen Revolutionen in den letzten drei Jahrhunderten. Die Geschichte der Sexualität, wie sie in unseren Lern- und Geschichtsbüchern dargestellt wird, ist eine freche Doppelmoral und eine Lüge.

*Elias Kirsche ist 1982 in der UdSSR geboren, ist Kulturwissenschaftler und Philosoph und arbeitet nebenher als Sexualberater.

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Ein Episodenroman

Zum Jubiläum des zehnjährigen Bestehens des Schweizerischen Literaturinstituts in Biel schreiben zehn Studierende exklusiv für die «Südostschweiz» eine 24-teilige Fortsetzungsgeschichte mit dem Titel «Die Alpen im Jahr 2216». 

Seit seiner Gründung hat das Literaturinstitut, das zur Hochschule der Künste Bern HKB gehört, über hundert Absolventen des Bachelorstudiengangs «Literarisches Schreiben» hervorgebracht, darunter erfolgreiche junge Autoren wie Arno Camenisch, Silvia Tschui oder Michael Fehr. Als Dozent von Anfang an dabei ist der Bündner Autor Silvio Huonder, der auch diese Reihe betreut.

Alle anderen Teile findet man unter www.suedostschweiz.ch/alpen2216

 

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