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Episode 1: Kuh-Fernsehen

Wohlhabende Touristen blicken nur noch aus sicherer Höhe – aus den Fenstern eines Zeppelins –auf die Alpen und die Schweiz. Auf den Weiden stehen Kühe und schauen fern.

Südostschweiz
28.07.16 - 11:00 Uhr
Kultur

von Lara Sleimann*

Der Körper des Zeppelins schiebt sich langsam durch die dichten, braunen Wolkenmassen. Das laute Sirren der Motoren verfängt sich in den Felsschluchten, wird durch die feuchte Luft getragen und fliesst mit den schlammigen Bächen die Felsen hinunter, sie sind gelb wie Senf.

Drinnen herrscht dämmerige Hitze, die meisten Passagiere haben sich während der Mittagsstunden in die Kabinen zurückgezogen. Seit zwei oder drei Tagen ist die Landschaft, die sich vor den Panoramafenstern anbietet, seltsam fade geworden. Hier sind offensichtlich ganze Berge abgerutscht oder gesprengt worden. Es sind kilometerweit nur Geröll, Schlamm und verkohlte Tannen zu sehen.

Zuvor haben sie lange begrünte Regionen überflogen, Schluchten und Reliefs, verwitterte Kirchen auf Berghängen. Einmal passieren sie einen grossen Stausee, die ungetüme Spiegelung des Zeppelins darin ist ein beeindruckendes Schauspiel. Einmal können sie einen flüchtigen Blick auf ein endloses, umzäuntes Gebiet erhaschen. Die Architektur ist ungewohnt regelmässig, fast, als wären die Gebäude aus quadratischen Bauklötzen zu hohen und niedrigeren Haufen aufgeschichtet und in fein säuberlichen Abständen nebeneinander hingestellt worden.

Das Schiff macht aber, als dieser merkwürdige Staat sich unter ihm auszubreiten droht, eine ungewohnt scharfe Linkskurve und hält Kurs auf die noch begrünten Teile der Alpen, die als etwas rückständig gelten. Dort gleiten sie an etlichen Bauernhöfen, Weiden mit grasenden und blöde auf einen gigantischen Bildschirm glotzenden Kühen vorbei. Diese fremdartigen und äusserst hässlichen Kreaturen tun den ganzen Tag nichts anderes, als fernzusehen und grünes Gras zu essen.

Am verwunderlichsten ist das Fernsehprogramm, das nur aus sich langsam bewegenden, schwarzen Schemen besteht: Sich im Wind wiegende, zackige Palmwedel sind auszumachen, weit entfernte, menschliche Körperumrisse oder der immer kleiner werdende Schatten eines sich entfernenden Rehkitzes. Eine seit etwa 100 Jahren statistisch messbare Epidemie hat fast zwei Drittel der auf der Erde geborenen Milchkühe vorzeitig das Leben gekostet: Sie sind einfach vor Langeweile gestorben. Das Anbringen der Grossleinwände auf den Weideflächen hat die Existenz vieler Milchbauern gerettet. Es hat sich allerdings als nicht wirksam erwiesen, auf den Grossbildschirmen einfach das für Menschen hergestellte Fernsehprogramm abspielen zu lassen. Viele Kühe sind durch die Schnelligkeit und Farbintensität des Gezeigten in Panik geraten und durch diesen kolossalen Schock dahin-
gerafft worden.

Der Zeppelin steuert jetzt weiter nach oben, durchstösst die Wolkendecke und schiebt sich an den schneebedeckten Berghängen vorbei. Das laute Sirren der Motoren verliert sich in den Felsschluchten und den Wiesen darunter. Unter dem Lärm verbergen sich vielleicht das Geräusch eines rasch trippelnden Rieseninsekts, Stimmen und das ferne Echo einer Explosion, Schritte im Wald, herabfallende Bäume, das Keuchen erschöpfter Wanderer.

Drinnen schreitet der Direktor, wie immer mit Hut und seinem Jackett aus Pantherfell bekleidet, die kurzen, pummeligen Beine zu grossen und festen Schritten bemüht, den mit bordeauxfarbenem Teppichboden ausgelegten Flur seines Zeppelins entlang. «Kümmern Sie sich um die verdammte Klimaanlage!», ruft er einem vorbeilaufenden Bediensteten zu.

*Lara Sleimann ist 1993 in Oberhausen geboren und lebt heute in Biel.

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Ein Episodenroman

Zum Jubiläum des zehnjährigen Bestehens des Schweizerischen Literaturinstituts in Biel schreiben zehn Studierende exklusiv für die «Südostschweiz» eine 24-teilige Fortsetzungsgeschichte mit dem Titel «Die Alpen im Jahr 2216». 

Seit seiner Gründung hat das Literaturinstitut, das zur Hochschule der Künste Bern HKB gehört, über hundert Absolventen des Bachelorstudiengangs «Literarisches Schreiben» hervorgebracht, darunter erfolgreiche junge Autoren wie Arno Camenisch, Silvia Tschui oder Michael Fehr. Als Dozent von Anfang an dabei ist der Bündner Autor Silvio Huonder, der auch diese Reihe betreut.

Alle anderen Teile findet man unter www.suedostschweiz.ch/alpen2216

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