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70 Jahre nach Auschwitz bleibt die Würde des Menschen antastbar

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Südostschweiz
10.10.10 - 02:00 Uhr

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Am 27. Januar 1945, heute vor 70 Jahren, befreiten Truppen der 60. Sowjetarmee das Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau. Heute gedenkt die Welt der Opfer. Allein in Auschwitz starben 1,5 Millionen Menschen: Vor allem Juden, aber auch Sinti, Roma, Zeugen Jehovas, Homosexuelle, geistig Behinderte, Kriegsgefangene, Oppositionelle, Kommunisten und Pastoren – Männer, Frauen und Kinder. Die Mehrheit wurde direkt nach der Ankunft im Lager ausselektiert und in den Gaskammern getötet. Wer nicht vergast wurde, wurde zur Zwangsarbeit eingeteilt oder für medizinische Versuche missbraucht und verendete an Erschöpfung oder Krankheit. Die Nazis nannten das «Vernichtung durch Arbeit». In Auschwitz wurde das Töten industrialisiert. Auschwitz ist zum Symbol geworden für den Rassenwahn und für den Massenmord der Nazis an den europäischen Juden. Vielmehr noch: Auschwitz steht generell als Mahnmal dafür, was Menschen anderen Menschen antun können. In Auschwitz wurde den Gefangenen nicht nur das Leben geraubt, sondern das Recht auf das Menschsein an sich – die Insassen wurden zu Nummern degradiert, ihnen wurde jegliche Würde abgesprochen.

Die Erinnerung an Auschwitz soll künftigen Generationen deshalb als abschreckendes und mahnendes Beispiel dienen. «Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.» So lautet der erste Artikel des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland vom 8. Mai 1949. Dieses Grundrecht ist als bewusste Reaktion Nachkriegsdeutschlands auf die Verbrechen des nationalsozialistischen Staates zu verstehen. Auch andere europäische Verfassungen kennen den Begriff der Menschenwürde, welcher aus der Renaissance stammt. 1496 veröffentlichte der italienische Philosoph Giovanni Pico della Mirandola seine Schrift «Oratio de hominis dignitate» («Rede über die Würde des Menschen»). Das Bundesverfassungsgericht definiert die Menschenwürde wie folgt: «Es ist damit jener Wert- und Achtungsanspruch gemeint, der dem Menschen kraft seines Menschseins zukommt, unabhängig von seinen Eigenschaften, seinem körperlichen oder geistigen Zustand, seinen Leistungen oder seinem sozialen Status.» Kurz: Zuallererst ist der Mensch Mensch. Doch die Würde des Menschen bleibt auch 70 Jahre nach Auschwitz antastbar. Auschwitz existiert weiter, lediglich unter anderem Namen und in anderer Form. Die mahnende Erinnerung an den Holocaust konnte die Völkermorde von Ruanda, Bosnien (Srebrenica) oder Kambodscha (Killing Fields) nicht verhindern. Die Würde des Menschen wurde und wird weiterhin auf das gröbste verletzt. In diesem Zusammenhang ist nicht nur der IS-Terror zu nennen, sondern auch Abu-Ghraib und Guantànamo, wo Folter durch den Rechtsstaat ­legalisiert wurde, zum «Schutz der Freiheit». Auch in der Wirtschaft wird die Würde des Menschen missachtet, etwa in den Textilfabriken von Bangladesch.

Gerade deshalb muss Auschwitz weiterhin als abschreckendes Beispiel für kommende Generationen dienen. Dabei darf es aber nicht allein Aufgabe des Staates sein, die Würde des Menschen zu achten und zu schützen. Dies zu tun ist vor allem auch eine Bürgerpflicht, gerade in Zeiten von Islamophobie, Pegida und Terror. Denn wie sagte doch Albert Einstein: «Die Welt wird nicht bedroht von den Menschen, die böse sind, sondern von denen, die das Böse zulassen.»

ist Redaktor.

«Auschwitz existiert weiter, nur unter anderem Namen»

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